Globaler Machtwechsel - Europa bibbert vor machthungrigen BRICS

05.12.2011

ManagerMagazin

Globaler Machtwechsel

Europa bibbert vor machthungrigen BRICS

Von Stefan Biskamp, Buenos Aires

Bitterer Lernprozeß: Wie die Schwellenländer Europa das Wassser abgraben
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DPA

Befeuert von der Euro-Krise bahnt sich ein Paradigmenwechsel in der Weltwirtschaft an. Der Washington-Konsens der Industrieländer ist Vergangenheit. Die harten Bedingungen der aufkommenden BRICS-Staaten für Hilfen zur Euro-Rettung sind der Start eines globalen Machtwechsels.

Buenos Aires - Roberto Abdenur hat ein gutes Gespür dafür, ob sich irgendwo auf der Welt eine folgenschwere Entwicklung anbahnt. Der brasilianische Diplomat hat ja auch einige erlebt: Als Botschafter in Peking sah er vor 20 Jahren aus der Nähe, wie Chinas wirtschaftlicher Aufstieg begann; er machte den Umzug von Bonn nach Berlin mit, dann wechselte er nach Wien, von wo aus er sein Land auch in den jungen Staaten Kroatien und Slowenien vertrat. Doch nun beobachtet er "eine historische Wende": Denn noch vor wenigen Jahren hätten lateinamerikanische Regierungen gezittert, wenn auch nur ein Trainee des Internationalen Währungsfonds (IWF) seinen Besuch anmeldete. "Jetzt kommt die Chefin selbst und bittet um Hilfe."

 

Dem konnte der für seine ironischen Spitzen gefürchtete brasilianische Finanzminister Guido Mantega noch eins draufsetzen - und produzierte in dre vergangenen Woche nach dem Treffen mit IWF-Chefin Christine Lagarde einen mittleren diplomatischen Eklat: "Es ist für uns ein euphorisches Gefühl, dass uns der IWF diesmal kein Geld bringt, sondern um Geld bittet", sagte er in Anspielung auf die harten Kreditbedingungen des Fonds, unter denen Brasilien Ende der 90er Jahre ächzte. Er ziehe es vor, Gläubiger und nicht Schuldner des IWF zu sein.

Bei ihren Gesprächen in Brasilia kassierte Lagarde aber nicht nur Witze auf ihre Kosten, sondern auch eine knallharte Abfuhr. Wie schon in den vergangenen Wochen in Peking und Moskau. Sicher, sagte Mantega, Brasilien sei wie die anderen BRICS-Staaten Russland, Indien, China und Südafrika bereit den Fonds zur Krisenbekämpfung aufzustocken, also einen Teil seiner Devisenreserven von rund 350 Milliarden Dollar einzusetzen. Aber dann fügte er etwas hinzu, das Europäern das Herz in die Hose rutschen lassen dürfte: Die genaue Höhe der - auch noch an weitere Bedingungen geknüpften - Hilfen würden die BRICS "vor dem nächsten G20-Treffen" unter sich ausmachen. Doch der Gipfel ist erst für Februar 2012 angesetzt, und schon jetzt frisst sich der Käuferstreik für europäische Staatsanleihen bis in den Kern der Euro-Zone.

Selbst um Latino-Humor und gekränkten Stolz bereinigt, ist das eine heftige Klatsche für Lagarde, die noch auf dem Gipfeltreffen der G20 in Cannes Anfang November als große Siegerin gefeiert wurde. Aber das war schon deswegen ein Irrtum, weil Lagarde nur die Macht der mächtigsten IWF-Mitgliedsländer verwaltet; sie ist Managerin, keine Eigentümerin des Fonds. Und dessen Eigentümerstruktur wird sich mit einem höheren Einsatz der Schwellenländer ändern; wer in den globalen Behörden von IWF bis Weltbank, von WTO bis OECD und Uno das Sagen hat, das ist im Fluss. Lagardes bittere Erfahrung auf ihrer Lateinamerika-Reise von Peru am Montag über Mexiko nach Brasilien ist nur ein Nebenstrang des globalen Macht- und Paradigmenwechsels, der sich seit Cannes vor vier Wochen Bahn bricht, lange vorbereitet durch den Aufstieg der Schwellenländer und nun befeuert von der sich zuspitzenden Euro-Krise.

Europa hat nichts durchgesetzt

Noch hat sich der wachsende Einfluss der BRICS nicht in Stimmrechten oder Chefposten der Weltbank-Institutionen niedergeschlagen, aber in den G20 nimmt ihr Gewicht rapide zu. In Cannes haben sie alles durchgesetzt: Eine Deckelung der Agrarpreise ist vom Tisch, direkte Euro-Hilfen ebenso - überschuldete Industrieländer sind aufgefordert, ihre Bilanz selbst oder mit Hilfe des IWF in Ordnung zu bringen. Der Fokus des Abschlusskommuniqués liegt auf Wachstum und dem Abbau globaler Handelsbilanzungleichgewichte etwa durch Ankurbeln der Binnennachfrage - genau das, was China in seinem neuen Fünfjahresplan auch vorhat; Brasilien und Argentinien haben die internationalen Gewerkschaftsorganisation ILO als Dauerteilnehmer der G20-Treffen durchgesetzt. Europa hat nichts durchgesetzt. Der angelsächsische Block aus USA, Großbritannien, Kanada und Australien hat seine Position gerade noch gehalten.

Das ist eine Machtverschiebung. Sie könnte den Beginn einer neuen Epoche der Globalisierung unter Führung der Schwellenländer markieren, ebenso folgenschwer wie der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods Anfang der 70er Jahre. Damals gingen die "Goldenen 30 Jahre" des Kapitalismus zu Ende, und die Hegemonie eines neuen Systems begann, das erst 1990 eher zufällig als Motto einer Konferenz seinen wohl griffigsten Namen bekam: des Washington-Konsens. Nun zeichnet sich ein weiterer Wechsel ab: Nennen wir ihn den "Cannes-Konsens".

Das Mantra des Washington-Konsens war die Steigerung der Kapitalerträge durch einen von der Leine gelassenen Finanzsektor. Es war eine Reaktion der politischen und wirtschaftlichen Eliten auf Vollbeschäftigung und zurückgehende Unternehmensgewinne in den USA und in Europa in den 60er Jahren. Wirtschaftspolitisch legitimierten sich die Regierungen der Industrieländer seitdem zunehmend durch das Versprechen der Teilhabe aller an den Gewinnen auf das nun allerdings auch von allen - in der Regel als Arbeitnehmer nach Abzug der Lohnsteuer - einzusetzende Kapital.

Wachstum ist im globalen Norden nicht mehr das makroökonomische Kernziel, sondern bestenfalls die Konsequenz steigender Gewinne - versehen mit der Warnung vor Inflation durch zu schnelles Wachstum, das auf diese Weise die Vermögen und durch Verknappung von Arbeitskraft die Erträge gefährdet. "Es ist die Wirtschaft, Dummkopf", der Wahlkampfspruch des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, hätte gemessen an seiner Wirtschaftspolitik mit Fokus Finanzmärkte eigentlich heißen müssen: "It's the earnings per share, stupid." Wäre Wachstum das Ziel gewesen, dann hätte der Konsens versagt: Die globale Wirtschaftsleistung wuchs zwischen 1965 und 1980 im Schnitt um jährlich 4,1 Prozent, von 1980 bis 1989 um 3,1 Prozent pro Jahr, kam dann in den Jahren bis 1996 auf 1,8 Prozent, und für das weltweite Wachstum seitdem sind vor allem die Schwellenländer verantwortlich.